Stadt- und Sprachgeschichte Greifswalds
Sprachgeschichte und Stadtgeschichte stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang: Historische Stadtsprache (als Summe sprachlicher Handlungen, die in einer Stadt realisiert und rezipiert wurden) ist schriftlich überliefert.
Städte sind – in überlieferungsgeschichtlicher Perspektive – Text-Räume (Schulz 2021: 183). Sie verfügen über Orte der Textproduktion, der Textaufbewahrung und der Textrezeption. Solche Orte können beispielsweise Kanzleien, Klöster mit Skriptorien und Buchsammlungen, Kirchenbibliotheken, Offizinen, Universitäten oder auch Kontore, Privathaushalte und Gasthäuser sein. Der Ortspunkt Greifswald zeichnet sich „durch die Vielzahl der historischen Orte der Textproduktion und der Akteure der Schriftlichkeit (Rat, Kirchen, Klöster, die herzogliche Kanzlei, die Universität, Privatpersonen) und durch die gute Überlieferungslage (u. a. in Stadtarchiv, Universitätsarchiv, Landesarchiv und Kirchenbibliothek)” (Schulz 2023: 26) in besonderer Weise aus.
Die Anlass für die Gründung Greifswalds steht im Zusammenhang der monastischen Entwicklung des südlichen Ostseeraums und hochmittelalterlicher Siedlungsbewegungen von Bevölkerungsgruppen aus dem (nieder)deutschen Sprachgebiet in slawisch besiedelte Gebiete (hochmittelalterlicher Landesausbau, sog. „Ostsiedlung”).
Nach dem Sieg Heinrichs des Löwen gegen die Elbslawen (1164) und der Taufe des Abodritenfürsten Pribislaw wurden in Mecklenburg erste Zisterzienserklöster gegründet: 1171 in Doberan (ausgehend von Amelungsborn im Weserbergland), 1172 in Dargun (ausgehend von Esrom auf Seeland).
Nach der Zerstörung des Klosters Dargun kamen die Mönche an die Flussmündung der Hilda (heute: Ryck). 1199 wurde das gleichbenannte Kloster Hilda (seit dem 14. Jahrhundert: Eldena), in der Nähe einer Salzsiedestätte und einer Handelsstraße gelegen, durch die unter dänischer Lehenshoheit stehenden Fürsten von Rügen gegründet.
1248 wird im Besitz des Klosters ein oppidum Gripheswald erwähnt.
1250 wird der Siedlung das lübische Stadtrecht (durch den Herzog von Pommern) verliehen.
Seit den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts kommen Dominikaner (Thümmel 2011: 22; Geiß 2009: XXXVI) und kurz darauf auch Franziskaner (Igel 2010: 5; Herold / Magin 2009: 19) in die Stadt und gründen Klöster.
1262 werden das Heilig-Geist-Hospital und die Kirche St. Nikolai erstmals erwähnt. St. Jacobi wird 1275, St. Marien 1280 ersterwähnt.
Der Abschluss von politischen Bündnissen und Verträgen zeigt die rasche Entwicklung der Stadt: Greifswald ist am Rostocker Landfrieden (1283) beteiligt. Dieser Schutzvertrag ist eine Grundlage für den wirtschaftlichen Aufstieg der Städte an der Ostseeküste. 1310 vereinbaren die Städte Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald ein weiteres Schutzbündnis.
Im 14. Jahrhundert sind in Greifswald an den Pfarrkirchen Schulen nachweisbar, die dem Rat unterstanden (Thümmel 2011: 29). Das Rathaus wird 1349 erstmals erwähnt.
Greifswald ist im 14. Jahrhundert acht Mal Ausrichter von Hansetagen.
1370 ist Greifswald als Vertragspartner im Bündnis der Hansestädte am Frieden von Stralsund (24. 5. 1370) beteiligt, in dem die hansischen Handelsprivilegien für alle Städte bestätigt werden.
Nachdem die Universität Rostock bereits für einige Jahre in Greifswald Aufnahme gefunden hatte, wird 1456 in einem institutionellen Zusammenspiel zwischen der Stadt, dem Landesherrn und dem Bischof von Kammin eine Universität gegründet, nach Rostock (1419) die zweite Universitätsgründung im nördlichen Teil des Heiligen Römischen Reichs.
Die Universität wird – nach dem Ende der Immatrikulationen 1527 – im Jahr 1539 „mit einem Lehrprogramm nach Wittenberger Vorbild wiedereröffnet” (https://www.uni-greifswald.de/universitaet/geschichte/chronik-der-universitaet/).
1531 findet die erste evangelische Predigt in Greifswald statt.
1644 ziehen sich Greifswald und anderen Hansestädte in Pommern von den Aktivitäten der Hanse zurück.
1631 nehmen schwedische Truppen Greifswald ein.
Vorpommern wird im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges erneut durch die schwedische Armee besetzt. Im Frieden von Osnabrück fällt Greifswald mit Vorpommern an Schweden. Es bleibt bis zum Wiener Kongress 1815 schwedisch und geht dann in preußischen Besitz über.
Literatur:
Jürgen Geiß, Mittelalterliche Handschriften in Greifswalder Bibliotheken. Verzeichnis der Bestände der Bibliothek des Geistlichen Ministeriums (Dombibliothek St. Nikolai), der Universitätsbibliothek und des Universitätsarchivs, Wiesbaden 2009
Jürgen Geiß, Buchhandel, Bettelorden, Büchersammlungen. Erkundungen zur Bibliothekslandschaft im spätmittelalterlichen Greifswald, Quaerendo 41 (2011) S. 214–224.
Jürgen Herold – Christine Magin, Die Inschriften der Stadt Greifswald, Die Deutschen Inschriften 77, Wiesbaden 2009
Karsten Igel, Zwischen Bürgerhaus und Frauenhaus. Stadtgestalt, Grundbesitz und Sozialstruktur im spätmittelalterlichen Greifswald, Städteforschung 71, Köln – Weimar – Wien 2010
Matthias Schulz, Stadtsprachen in historischen Bibliotheksbeständen. Stadtsprachliche Varietäten und Schreibsprachwechsel in Greifswald im Spiegel der Bibliothek des Geistlichen Ministeriums, in: Regiolekt, Funktiolekt, Idiolekt: Die Stadt und ihre Sprachen. Herausgegeben von Anna Karin – Silvia Ulivi – Claudia Wich-Reif, Sprache in kulturellen Kontexten 1, Göttingen 2015, S. 173–192
Matthias Schulz, Fachsprachen in historischen Stadtsprachen (?). Das Beispiel Greifswald, in: Zur Geschichte der Fach- und Wissenschaftssprachen. Identität, Differenz, Transfer. Herausgegeben von Wolf Peter Klein – Sven Staffeldt, Würzburg 2021, S.181-196.
Matthias Schulz, Stadtsprachgeschichte und historische Stadtsprachenforschung, Muttersprache 133 1–2 (2023) S. 12–31.
Hans Georg Thümmel, Greifswald – Geschichte und Geschichten. Die Stadt, ihre Kirchen und ihre Universität, Paderborn 2011
https://www.uni-greifswald.de/universitaet/geschichte/chronik-der-universitaet/ (14.10.23)
Weiterführend:
Greifswald. Geschichte der Stadt. Herausgegeben von Horst Wernicke, Schwerin 2000
Arend Mihm, Sprachenvielfalt und kontaktbedingter Wandel. Zum Erkenntniswert der Greifswalder Sprachgeschichte, in: Sprachgeschichte vor Ort. Stadtsprachenforschung im Spannungsfeld zwischen Ortspunkt und Sprachraum. Herausgegeben von Matthias Schulz – Lukas Kütt, Germanistische Bibliothek 74, Heidelberg 2022, S. 1–34.